Poker Essays

Strategie, Mindset und Beispiele für Theorie und Praxis

Der Erwartungswert im No Limit Texas Hold'em Poker

Einleitung

In diesem Artikel lernst du, wie du den Expected Value (Erwartungswert) im No Limit Texas Hold’dem anwenden kannst. Im Artikel zur Equity hast du gelernt warum Equity und Expected Value zwei unterschiedliche Konzepte sind. In diesem Artikel lernst du die Grundlagen über das Konzept des Expected Value im No Limit Texas Hold’em Poker im Detail kennen.

Grundsätzliche Überlegungen

Im ersten Schritt möchte ich dir darlegen, was der Erwartungswert genau ist und welchen Bezug er zu No Limit Texas Hold’em Poker aufweist.

Definition des Erwartungswertes

Der Begriff des Erwartungswertes kommt aus der Stochastik und beschreibt für eine Zufallsvariable die Zahl, die diese Zufallsvariable im Mittel annimmt.

Bezogen auf Spiele lässt sich diese Definition wie folgt konkretisieren:

Der Erwartungswert eines Spielers drückt aus, wie viel dieser Spieler
  • von einer gegebenen Situation startend,
  • alle verfügbaren Informationen und
  • denkbaren Spielverläufe einbeziehend,
    im Schnitt gewinnen oder verlieren wird.

Einflussfaktoren

Im No Limit Texas Hold’em Poker ist der Erwartungswert entsprechend von verschiedenen Faktoren abhängig. Einflussfaktoren sind zum Beispiel:

  • die eigene Hand
  • das Board
  • die Anzahl und Hände bzw. Ranges der Mitspieler
  • die möglichen Spielverläufe und
  • die erwarteten Entscheidungen der Spieler welche den Ausgang und die Verteilung der jeweilige Spielverläufe beeinflussen.

Nicht zuletzt ist auch der Unterschied in der Spielstärke zwischen einem Spieler und seinen Mitspielern ein Einflussfaktor für den Erwartungswert.

Praktische Anwendung

Wenn du berücksichtigst, dass diese und andere Einflussfaktoren den Erwartungswert eines Spielers in einer gegebenen Situation unterschiedlich stark beeinflussen und dieser Einfluss im praktischen Spiel nur auf Basis von Annahmen bestimmt werden kann, ergibt sich, dass der Erwartungswert in der Praxis in den seltensten Fällen präzise sondern meist nur näherungsweise bestimmt werden kann.

Abgrenzung zur Equity und zur Gewinnwahrscheinlichkeit

Bevor du im Folgenden die Anwendung des Expected Value oder Erwartungswertes für dein Spiel verinnerlichst, versuche dir noch einmal vor Augen zu führen, wie sich die Konzepte von Gewinnwahrscheinlichkeit, Equity und Erwartungswert voneinander unterscheiden.

Gewinnwahrscheinlichkeit:
Wie häufig gewinnt ein Spieler seine Hand am Showdown oder vor dem Showdown?

Equity:
Welchen Anteil am Pot kann ein Spieler erwarten, wenn die Hand ohne weitere Entscheidungen bis zum Showdown durchläuft?

Erwartungswert:
Welchen Gewinn oder Verlust kann ein Spieler im Mittel erwarten wenn alle möglichen Spielverläufe und Informationen berücksichtigt werden?

Auch wenn sich die Begriffe Erwartungswert, Equity und Gewinnwahrscheinlichkeit präzise von einander abgrenzen lassen, so stehen sie doch auch in einem direktem Verhältnis zueinander:

Die Equity ist einer der Einflussfaktoren für die Gewinnwahrscheinlichkeit und der Erwartungswert ergibt sich aus der Gewinnwahrscheinlichkeit multipliziert mit dem erwarteten Gewinn , abzüglich der zu tätigenden Einsätze.

Entsprechend kannst du den Erwartungswert mathematisch wie folgt beschreiben:

EV=p×winnings−costs

wobei
  • p (englisch probability) die Gewinnwahrscheinlichkeit beschreibt,
  • winnings den potentiellen Gewinn inkl. aller getätigter Einsätze sowie
  • costs die getätigten Einsätze.

Nutzen des Erwartungswertes

In der Praxis findet der Erwartungswert häufig in der Bewertung und im Vergleich verschiedener Spielzüge Anwendung. Außerdem eignet er sich als eines der Instrumente für das Gameplan Design.

Berechnen der Profitabilität bestimmter Spielzüge

Am häufigsten findet der Erwartungswert Anwendung bei der Berechnung der Profitabilität bestimmter Spielzüge.

Beispiel: Analyse von All In Situationen

Stell dir folgende Situation vor:

Preflop:
BU hält A♠ K♦
MP2 (50bb) raises 3bb, MP3 folds, CO folds, BU (100bb) raises 9bb, SB folds, BB folds, MP2 raises 47bb All In, BU …

Erwartungswert des Calls

Den Erwartungswert berechnest du unter Verwendung der vorgestellten Formel:

EV=p×winnnings−costs

Zuerst ermittelst du die Einflussfaktoren, die du präzise bestimmen kannst. Wenn der BU called kostet ihn dies 41bb. Da es sich um ein All In handelt, lässt sich der erwartete Gewinn präzise bestimmen, nämlich 50bb von MP2 plus 50bb vom BU + 1.5bb aus den Blinds, also 101.5bb.

Diese Werte kannst du in die Formel einsetzen.

EV=p×101.5bb−41bb

Im zweiten Schritt setzt du die Werte ein, die du nur abschätzen kannst. In diesem Falle die Gewinnwahrscheinlichkeit des BU mit AKo. Diese kannst du für verschiedene Ranges von MP2 mit Tools wie Pokerstove oder dem Pokerstrategy Equilab ausrechnen. Ich habe an dieser Stelle das Pokerstrategy Equilab verwendet und für MP2 eine All In Range von TT+, AQs und AK unterstellt.

AKo vs. TT+,AQs,AK

Die Gewinnwahrscheinlichkeit entspricht beim All In der Equity, in diesem Fall 42.87% für den BU. Diesen Wert setzt du in die Formel ein und hast den Erwartungswert

Berechnung des Erwartungswertes
EV = 42.87%×101.5bb−41bb
= 2.5bb

Das bedeutet, unter den gegebenen Annahmen erwartet der BU auf lange Sicht einen Gewinn von 2.5bb pro Hand und sollte entsprechend callen.

Die wird aufgefallen sein, dass der BU natürlich in jeder einzelnen Hand entweder 101.5 bb gewinnt oder eben 41bb verliert. Jedoch in Summe und auf lange Sicht werden sich Gewinne und Verluste auf ca. 2.5bb pro Hand angleichen.

Benötigte Gewinnwahrscheinlichkeit für den Call

Natürlich kannst du die Formel für den Erwartungswert auch so umstellen, dass die Gewinnwahrscheinlichkeit ermittelt wird. Dies ist besonders nützlich im Vergleich eines All In Calls zum Fold. Da der Fold einen Erwartungswert von 0 hat (du investierst keine weiteren Chips) kannst du durch das Umstellen herausfinden, wie groß die Gewinnwahrscheinlichkeit sein muss, damit der Call profitabler ist als der Fold.

Berechnung der benötigten Gewinnwahrscheinlichkeit
EV call > EV fold
p×winnings−costs > 0
p > costs÷winnings
> 41bb÷101.5bb
> 40.4%

Da der BU eine Gewinnwahrscheinlichkeit von 42.87% vorweisen kann, ist der Call profitabler als der Fold. Wie vorhin ausgerechnet, ist dein Erwartungswert in dieser Situation für den Call ca. 2.5bb, der Erwartungswert für den Fold nur 0bb. Entsprechend würdest du, wenn du an Stelle des BU wärst unter den gegebenen Annahmen callen.

Gameplan Design

Ein weiteres häufiges Anwendungsfeld für den Erwartungswert ist das Design des eigenen Gameplans. Eines der Ziele die du im Gameplan Design verfolgen möchtest ist es, gegen starke Gegner das Minimum zu verlieren. Dies gelingt dir am besten, wenn du deine Spielzüge so gestaltest, dass es für den Gegner keinen Unterscheid darstellt, ob und wie er weiterspielt oder ob er aufgibt.

Beispiel: Ermitteln von Bluff Frequenzen für das eigene Spiel

Ein typisches Beispiel sind die Bluff Frequenzen für das Spiel am River. Stell dir folgende Situation vor

Preflop:
MP2 folds, MP3 folds, CO folds, BU folds, SB (100bb) raises 3bb, BB (100bb) calls
Flop (6bb): A♦ 7♠ 2♥
SB (97bb) bets 4bb, BB (97bb) calls
Turn (14bb): 3♣
SB (93bb) bets 10bb, BB (93bb) calls
River (34bb): 2♣
SB (83bb) bets 20bb, BB ???

Wie sieht der Plan vom BB am River aus? Grundsätzlich gibt es für BB die Möglichkeit zu folgen, die Möglichkeit zu callen und die Möglichkeit zu raisen. Schau die zuerst an, welche Merkmale die Call Hände aufweisen sollten:

Merkmale der Call Hände:
  • zu stark für einen Fold (ein call hat einen positiven Erwartungswert)
  • zu schwach für einen Raise (ein Raise hat einen geringeren Erwartungswert als der Call)
Merkmale der Fold Hände:
  • ein Call hat einen negativen Erwartungswert
Merkmale der Raise Hände:
  • entweder sind sie stark genug gegen die Range die der SB auf einen Raise weiterspielt oder
  • sie sind wertlos und dienen als Bluff

Wenn du dir überlegst wie der SB auf einen Raise weiterspielt, so sollte dir schnell in den Sinn kommen, dass er nicht nur mit den Händen weiterspielen kann die gegen die Value Range des BB einen positiven Erwartungswert haben sondern auch sogenannte Bluff Catcher einmischen möchte.
Aus Sicht des BB will dieser seine Bluff Frequenz derart gestalten, dass der SB mit seinen Bluff Catchern keinen positiven Erwartungswert hat (denn dann wäre der Bluff sinnlos) jedoch auch keinen negativen Erwartungswert hat, da SB dann nicht mehr mit den Bluff Catchern callen würde und die Value Range damit nicht mehr ausbezahlt würde. Entsprechend ist es das Ziel von BB seine Bluff Frequenz so zu designen, dass der Erwartungswert des SB mit seinen Bluff Catchern 0 beträgt. In der Spieltheorie nennt man dies Dissonanz zwischen Call und Fold.

Der Erwartungswert des SB mit seinen Bluffcatchern setzt sich zusammen aus der Bluffwahrscheinlichkeit (bluffFrq) des BU multipliziert mit dem Pot zuzüglich der Bluff Bet und dem Call (also 2×bet) abzüglich des vom SB zu tätigendem Einsatz.

Berechnung der Bluff Frequenz
EV SB (bluff catcher) = bluffFrq×(Pot+2×bet)−bet
0 = bluffFrq×(Pot+2×bet)−bet
bluffFrq = bet÷(pot+2×bet)
Mit dieser Formel kannst du in Abhängigkeit zur BetSize die Blufffrequenz bestimmen. Für eine Bet Size von 2/3 Pot wäre die Bluff Frequenz entsprechend:
Berechnung der Bluff Frequenz bei 2/3 pot size bet
bluffFrq = 2/3÷7/3
= 2÷7
28%

Zusammenfassung und Ausblick

Ich habe dir in diesem Artikel die Grundlagen zum Nutzen des Erwartungswertes im No Limit Texas Hold’em Poker erläutert. Insbesondere habe ich dir gezeigt, wie du den Erwartungswert berechnen kannst und auf welche Art und Weise du die Formel für den Erwartungswert für weitergehende Analysen umstellen und verwenden kannst. Außerdem habe ich dir Unterschiede und Zusammenhänge zu den verwandten Konzepten Equity und Gewinnwahrscheinlichkeit vorgestellt. Entsprechend empfehle ich dir, auch den Artikel zur Equity noch einmal zu studieren, um das Gelernte zu vertiefen und die Zusammenhänge zu verinnerlichen.